Montag, 22. Juni 2015

Erblindung

Ich habe lange nichts mehr geschrieben. Der Grund liegt darin, dass sich bei uns eine gesundheitliche Tragödie ereignete, die alle physischen und finanziellen Resourcen aufzehrte.

Nun sind wir wieder auf dem aufsteigenden Ast.

Wenige Tage, nachdem wir eines sonnigen Sonntags im letzten September den Zaun unseres Grundstückes mit einem großen, gelben "For Sale" - Banner schmückten, verlor mein Mann sein Augenlicht. Offiziell ist er nun blind, tappt aber zum Glück nicht völlig im Dunkeln, sondern kann Schatten und Umrisse ausmachen und mich von meiner Freundin unterscheiden.

Hier der medizinische Aspekt der Tragödie: Dank eines grünen Stars hatte mein Mann seine Sehkraft im rechten Auge schon vor einigen Jahren verloren. Im linken Auge nun entwickelte er im besagten September aus bisher ungeklärten Gründen ein Geschwür (ulcer) auf der Hornhaut (cornea) seines linken Auges. Alle Augentropfen halfen nichts. Der weiße Flecken und die Lichtempfindlichkeit wurden immer größer. Der Augenarzt hier in Deming, Dr. Petracca, glaubte mir anfänglich nicht, als ihm sagte, dass das für mich wie ein Geschwür aussähe.

Zwei Wochen später bekam Dr. Petracca kalte Füße und überwies meinen Mann zu einem Kollegen in Las Cruces, der größeren Stadt im Osten, eine Stunde über die Autobahn. Nach gründlicher Untersuchung schob sich selbiger Kollege mit seinen Drehstuhl von meinem Mann weg und legte sein Gesicht in Sorgenfalten. "Guter Mann, Sie haben ein ernsthaftes Problem. Das ist ein Geschwür, und ich kann es nicht behandeln."
Einen Termin bei einem Spezialisten für Augenhornhauterkrankungen gab es schnell, nämlich schon für den nächsten Tag und zwar in El Paso. Zwei Stunden einfache Fahrt über die Autobahn.

Der Spezialist, Dr. Di Pascuale, machte uns wenig Hoffnung.  Er verschrieb neue Medikamente, die allerdings nichts halfen. Der weiße Fleck auf dem Auge wurde einfach nicht kleiner. Kleiner allerdings wurde die Hoffnung mit jedem der täglichen (!) Arztbesuche. Im schlimmsten Fall, so erklärte Dr. Di Pascuale, würde das Geschwür die Augenhornhaut perforieren. Wenn dann nicht sofort Hilfe eingeschaltet würde, könnte mein Mann seinen Augapfel verlieren.

Zu allem Unglück fand dann eine Konferenz für Augenärzte in Chicago statt, zu der alle Spezialisten eingeladen waren. An einem Freitag morgen also flog Dr. Di Pascuale für eine Woche nach Chicago. Dort blieb er allerdings nicht lange!

Drei Tage später, am Abend des darauffolgenden Montags, traf der Ernstfall ein. Mein Mann rief mich zu sich und teilte mir mit, dass soeben etwas mit seinem linken Auge geschehen sei und daß er überhaupt nichts mehr sehen könne.

Ich rief sofort Dr. Petracca an. (Dessen private Telefonnummer hatte ich mir in weiser Vorraussicht einige Tage zuvor geben lassen.) Da er allerdings in Las Cruces wohnt und in der dortigen Praxis mitarbeitet (er ist in Deming nur an zwei Tagen in der Woche), bestellte er uns nach Las Cruces. Dort angekommen und nach einer kurzen Untersuchung wurden unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Dr. Petracca rief dann Dr. Di Pascuale in Chicago an, wo es schon nach Mitternacht war, und folgte dessen Anweisung, sich sofort mit dem diensthabenden Augenarzt in der Notfallaufnahme des Universitätskrankenhauses in El Paso in Verbindung zu setzen. Geasgt, getan, und wenige Minuten später hieß es von dort, "kommen Sie sofort rüber!"

An dieser Stelle begann sich ein anderer Aspekt zu entfalten, den ich bis zum heutigen Tage für bemerkenswert halte: Alle Schlüsselfiguren in diesem Drama gingen, wie man hier sagt, "the extra mile" und taten Dinge, zu denen sie nicht nur nicht verpflichtet waren, sondern die mit Sicherheit gegen einige Regeln verstießen.

Da eine nächtliche Autofahrt in eine mir unbekannte Großstadt zu einem mir unbekannten Krankenhaus mit einem ernsthaft verletzten Mann zu den schlimmsten Dingen gehört, die man von mir verlangen kann, war es Dr. Petracca, der uns in seinem Privatwagen zur Universitätsklinik nach El Paso brachte.

Um Mitternacht kamen wir dort an. Die Notaufnahme war proppenvoll, und wir waren die einzigen "Anglos." Alle andern sprachen Spanisch. Dennoch - und dank der Intervention von Dr. Di Pascuale, der von Chicago aus das Krankenhaus angerufen hatte - wurde mein Mann nach nur wenigen Minuten aufgerufen. Der freundliche Augenarzt im Bereitschaftsdienst nahm eine Notfallprozedur vor, die ich nicht beschreiben kann. Zwar wurde sie mir erklärt und ich war dabei, allerdings muß ich zugeben, dass ich das Zuschauen unterließ. Es war einfach scheußlich.

Um halb zwei morgens verließ ich mit Dr. Petracca, der ja nur wenige Stunden später seinen Dienst antreten mußte, das Krankenhaus. Er brachte mich zurück zu meinem Auto, das vor der Arztpraxis in Las Cruces stand. Um halb vier in der Früh fiel ich zuhause in Deming ins Bett.

Am nächsten morgen ging es zurück nach El Paso. Bei Tageslicht und nach dem eingehenden Studieren von "Google Maps" traute ich mir das zu. Im Universitätskrankenhaus angekommen erfuhr ich, dass Dr. Di Pascuale den ersten Flieger zurück nach El Paso genommen hatte und nur wenige Stunden später in seiner Praxis auf uns warten würde.

Die Entlassung meines Mannes zog sich allerdings dermaßen in die Länge, dass Dr. Di Pascuale wieder intervenieren mußte, um den Prozess zu beschleunigen. Als wir dann endlich in seiner leeren Praxis ankamen (alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren ja auf Urlaub geschickt worden) wurden wir mit dem äußersten Mitgefühl begrüßt. Nach einer Untersuchung war dann klar, daß meinem Mann eine Spenderhornhaut verpflanzt werden mußte.

Nur wenige Tage später - am 24. Oktober - war dann die Operation, natürlich wieder in El Paso. Ein Freund war mitgekommen. Die Stunden zogen sich wie Kaugummi, während die "outpatient clinic" immer leerer wurde. Am Schluß waren es nur noch mein Freund Pete und ich, die auf und ab gingen. Es war früher Abend, als wir uns endlich auf den Heimweg machen konnten. Die Operation sei gut verlaufen, so Dr. Di Pascuale, allerdings müsse man nun sehen, ob die Spenderhornhaut abgestoßen würde.

Ich fasse mich nun kurz. Die Spenderhornhaut tat genau das, was sie tun sollte, nämlich sich friedlich mit den Überresten der Hornhaut meines Mannes zu vereinigen.

Die anfänglich täglichen Arztbesuche sind mittlerweile weniger geworden: Erst zwei bis dreimal in der Woche, dann einmal per Woche, alle zwei Wochen, einmal im  Monat, und nun - mehr als ein halbes Jahr später - alle zwei Monate. Die ersten Fäden sind gezogen worden, und mein Mann hat das Gefühl, dass er mit dem linken Auge schon ein kleines bißchen besser sehen kann. Bis alle 16 Fäden gezogen sind, wird es Spätsommer 2016! Erst dann wird sich zeigen, wieviel Sehkraft übrig ist.

Wie sich jeder und jede sicherlich vorstellen kann, war das alles einfach schlimm.
Blind-Werden gehört zu den Dingen, die man seinem schlimmsten Feind nicht wünscht.

Für mich dazu kam eine knochentiefe Erschöpfung. Die wochenlange tägliche Fahrerei nach El Paso (jedes mal waren wir mindestens fünf Stunden unterwegs), die große Belastung, jedes Telefonat, das meinem Mann galt, führen zu müssen und jedes an ihn gerichtete Schreiben beantworten zu müssen (und es gab Dutzende davon!) und natürlich die schlaflosen Nächte raubten mir alle physischen Energien und brachten mich einem Zusammenbruch nahe. (Meinem Mann waren Schlafmittel verschrieben worden, die er zum Glück auch einnahm.)

Soweit ist unsere Tragödie vergleichbar mit anderen gesundheitlichen Tragödien, wie sie sich z.B. in Ländern von Mittel- oder Nordeuropa abspielen.

Nun gibt es hier allerdings einen Mitspieler, der alles viel brutaler macht: Das amerikanische Gesundheitsssystem.

Dazu mehr in ein paar Tagen.

4 Kommentare:

Claudia aus Kärnten hat gesagt…

Oh mein Gott ...... das tut mir sehr Leid. Ich wünsche euch ganz viel Kraft weiterhin und das es hoffentlich gut für dein Mann ausgeht. Vielleicht kommt ja mehr Sehkraft zurück, als man sich nach dem schrecklichem Vorfall erhofft hat. Nach so einem Schicksal ist man ja schon mit dem "Wenigsten" zufirden, dennn alles ist besser als Blind!

Ganz liebe Genesungswünsche aus Kärnten

Liebe Grüße
Claudia

Monika hat gesagt…

Vielen Dank für Deine guten Wünsche, Claudia!

Felizitas hat gesagt…

Das ist ja wirklich furchtbar. Ich wünsche Dir und Deinem Mann alles Gute und weiter viel Kraft.
Die täglichen Fahrten über die I-10 von Deming nach El Paso sind bestimmt unglaublich anstrengend gewesen. Wir leben in Alamogordo, daher kene ich die Strecke recht gut. Dass Dich das an den Rand Deiner Belastbarkeit gebracht hat, ist kein Wunder.
Hoffentlich bekommt ihr eine bald eine Pause um durchzuschnaufen und um wieder neue Kraft zu sammeln.
Wie das alles durch das amerikanische Gesundheitswesen verkompliziert wurde, kann ich mir ganz grob vorstellen.
Alles Gute für euch beide und Grüße aus Alamogordo
Felizitas

Monika hat gesagt…

Vielen Dank, Felizitas, für Deinen Kommentar!
Die I-10 ist ja in Ordnung, allerdings ist El Paso einfach stressig.
Liebe Grüße nach Alamogordo!