Donnerstag, 26. April 2012

Auf dem Friedhof


Mein Mann und ich mögen alte Friedhöfe. 
So beschlossen wir letzten Montag auf dem Nachhauseweg von Silver City, einen kleinen Abstecher zu machen. Anstelle also auf der Bundesstrasse 180 direkt nach Deming zu fahren, bogen wir nach Osten auf die Bundesstrasse 152 ab. Eigentlich suchten wir nach dem Friedhof in Vanadium, von dessen aus den Tagen des "Wilden Westens" stammenden Gräbern wir gehört hatten. Weder mein Mann noch ich konnten uns allerdings recht an die Lage des Ortes erinnern. Kurz bevor wir die Eisenbahnschienen erreichten, bogen wir dann auf die 356 nach links ab. (Wie ich später zu Hause entdeckte, hätten wir nach rechts abbiegen sollen).

Nach nur wenigen Metern hieß uns ein Schild zur Historic Town of Fierro willkommen. Anstelle umzukehren, packte uns die Neugier und wir setzten unsere Fahrt auf der einsamen Landstrasse fort. 

Von Fierro, einem Bergbaustädtchen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, ist nicht mehr viel übrig. Ein paar alte, verfallene Häuschen säumen die Strasse. Einige - neuere - sind sogar bewohnt. Vor einem der runtergekommenen Häuser sehe ich einen Mann mit weißen, kniehohen Socken und mit nacktem Oberkörper im mit Unrat bedecktem Vorgarten stehend und mit einem Handy telefonierend. Ein Mädchen rennt schreiend durch die offene Tür ins Haus. Die blinden Fensterscheiben sind zerbrochen. Irgendwelche Tücher wehen dahinter und verwehren auch den neugierigsten Blick ins Innere. 

Bilder einer erschreckenden Armut!

Wir fuhren weiter und entdeckten linkerhand die Cemetery Road. Auf dieser unbefestigten Strasse erreichten wir nach wenigen Minuten den Friedhof. Außer uns war keine Menschenseele zu sehen. Langsam liefen wir zwischen den Gräbern umher. Viele sind eingefallen und außer ein paar Steinen und einem vermodertem Holzkreuz ist nichts mehr übrig. 



Mit den Augen suchte ich die Jahresdaten ab: geboren im Jahre X, gestorben im Jahre Y, das macht also dann soundsoviel Jahre. 
In vielen Gräbern liegen Kinder, manche sind noch nicht einmal ein Jahr alt geworden. 


Fast alle hier Begrabenen waren mexikanischer Abstammung, die Inschriften sind in Spanisch. Dennoch entspricht die Datumsangabe dem amerikanischen Gebrauch: Zuerst kommt der Monat, dann der Tag, zum Schluß das Jahr. (Carmen Garcia ist also nicht am siebten Tag des sechzehnten Monats geboren, sondern am 16. Juli 1887.)

Auch auf den Gräbern, um die sich noch ein entfernter Nachfahre kümmert, gibt es keine frischen Blumen. Blumen sind hier teuer und halten sich in der sengenden Sonne nur wenige Stunden. So schmücken Plastikblumen die Gräber. Am Kopfende gibt ein Schrein mit Jesus oder Maria hinter Glas Zeugnis der Religionszugehörigkeit. Ein schmiedeeiserner Zaun mit einem Türchen, das sich quietschend öffnen läßt, hält Coyoten und andere Tiere draußen.

Ich entdeckte das Grab eines Mannes, der ist im Jahre 1860 geboren war. Damals war hier in diesem rauhen Ort die Hölle los. Betrunkene und Krawallmacher wurden kurzerhand an einen hohen, in den Boden getriebenen Pfosten gebunden, bis sie wieder nüchtern waren oder sich wieder beruhigt hatten. Falls es sein mußte, verbrachten sie die ganze Nacht am Pfosten.
Ein Jahr später dann brach der Krieg mit den Apachen aus, der vielen Bergbauarbeitern das Leben kostete.

Wir entdeckten eine steinerne Bank und setzten uns unter einen schattenspendenden Baum. Es herrschten 33 Grad. In der Ferne konnten wir die Arbeiter hören, die mit der Reparatur der Eisenbahnschienen nach Silver City beschäftigt waren.

Wir philosophierten über die Vergänglichkeit des Lebens. Wir spürten sie, während wir dem hellen Geläut eines Windspiels lauschten, das in einem Baum über dem Grab eines Kindes befestigt war. Wir wurden innerlich ganz still. Es war als hätten wir für einige Augenblicke Ewigkeit gespürt.

Wie gut, dass es solche Orte noch gibt!

Angehörige einäschern zu lassen, liegt im Trend. Es ist günstiger, platzsparender, und man kann die Urne mit nach Hause nehmen, um den Inhalt später irgendwo zu zerstreuen.

Wäre aber unsere Welt nicht ohne jene alten Friedhöfe ärmer?
Wohin würden wir gehen, um Zwiesprache mit den Toten und uns selbst zu halten?