Sonntag, 9. Oktober 2011

What are you doing in Deming?

Downtown Deming

Drei Fragen tauchen in jedem Gespräch mit Unbekannten auf: Where do you come from? Why did you come to Deming? What are you doing here?

Während die erste einfach zu beantworten ist, die dritte einiger Ausführungen bedarf, führt die zweite Frage unweigerlich zu einem inneren sich-an-den-Kopf-Fassen: Warum um Himmels Willen ist man nach Deming gezogen?!

Neuzugänge lerne ich an zwei Orten kennen: im Hundepark und in meinen Yogakursen im Deming Zen Center. Die Jüngeren und die, die noch etwas vom Leben erwarten – egal welchen Alters - erzählen stirnrunzelnd von ihren Eindrücken in Deming und mit leuchtenden Augen von ihren Umzugsplänen. Ein Einsichtsvoller faßte seine Zukunftspläne mit den Worten „back to civilization“ zusammen!

Die Mehrheit der Neuhinzugezogenen sind im Rentenalter, zufrieden, keinen Schnee mehr schaufeln zu müssen und in keinen Verkehrsstau mehr zu geraten. Des weiteren erfreut sich ein Großteil dieser Bevölkerungsgruppe am eklatanten Mangel an intellektueller und kultureller Anregung. Man kann guten Gewissens zu Hause bleiben und sich vor den Fernseher setzen!

Vor kurzem fiel mir ein interessantes Stückchen Papier in die Hände: Eine Liste von all den Dingen und Einrichtungen, die hier in Deming fehlen im Vergleich zu Grünstadt, der Kleinstadt an der Weinstrasse, wo ich vor meiner Auswanderung jahrelang lebte.

Die Liste ist neun Jahre alt.
Schriebe ich sie heute erneut, sähe sie fast genausso aus.

Beide Kleinstädte haben ungefähr 15 000 Einwohner. Beide liegen an einer Autobahn.
Hier schon enden alle Gemeinsamkeiten.

Deming hat keinen Bahnhof. Die zwei Amtrak-Züge, die durch Deming fahren, halten nur, wenn jemand aus – oder einsteigen will. Man muß regelrecht dem Lokomotivführer zuwinken und ihm so zu verstehen geben, dass man einsteigen möchte!

Für Europäer unvorstellbar!

Es gibt kein Schild, kein Wartehäuschen, keine Tafel mit Ankunfts- oder Abfahrtszeiten, keinen Kiosk, keinen Schalter, wo man eine Fahrkahrte erstehen könnte, noch nicht einmal einen Automaten.

Die Fahrkarte kauft man im Internet, und dort erfährt man auch die Ankunfts- bzw. dieAbfahrtszeiten. Die Auswahl an Zügen ist äußerst beschränkt! Wenn ich z.B. nächsten Donnerstag nach Austin (Texas) will, habe ich keine andere Wahl, als den „Texas Eagle“ um 6:10 zu nehmen! Nichts am Nachmittag, nichts am Abend! Und falls ich mich am Mittwoch auf die Reise machen wollte, sähe ich alt aus! Kein einziger Zug hält mittwochs! (Übrigens würde die Zugfahrt 26 ½ Stunden in Anspruch nehmen!)

Bevor man sich dann allerdings auf den Weg macht, ist man gut beraten, sich vorher telefonisch oder wieder im Internet der Ankunftszeit zu vergewissern. Die Amtrak hat regelmäßig Verspätung. Ich rede hier nicht von Minuten. Nein, es handelt sich um Stunden oder gar halbe Tage! Ein Bekannter von uns wollte seine Tochter aus Los Angeles abholen und wartete 13 Stunden – in seinem Auto!

Man kann in Deming keine landesweiten und schon gar keine ausländische Zeitungen erstehen. Während ich am Grünstadter Bahnhof die Times kaufen konnte (oder die Le Monde, den British Observer, eine italienische und türkische Tageszeitung), muß ich hier mit der Deming Headlight, der Las Cruces Sun News oder der El Paso Times vorlieb nehmen. Alle sind mehr oder weniger Lokalzeitungen. (Las Cruces ist die nächstgrößere Stadt Richtung Osten, und El Paso hat den nächstgelegenen Flughafen, zwei Stunden östlich von hier.)

Nun muß man wissen, dass die acht - Seiten dünne Deming Headlight auch gerne Deming Dim Light oder Deming Stop Light genannt wird. Aus gutem Grund. Die Rechtschreib-und Grammatikfehler sind so auffallend, dass manche Lehrer/innen das Geschreibsel dieser Zeitung im Unterricht verwenden – als Beispiel dafür, wie man es nicht macht!

Darüber hinaus erscheint dann schon mal ein Foto von einem Sonnenuntergang oder von Erntearbeitern auf einem Zwiebelfeld - so groß, dass es fast die gesamte Titelseite einnimmt; aus Mangel an Inhalt. Die heutige Ausgabe z.B. zeigt auf der ersten Seite ein großes Foto von einem Soldaten, der seine Tochter zu ihrem achten Geburtstag mit seiner Rückkhehr und mit bunten Luftballons überraschte.

Die letzte Seite ist dem Lokalsport gewidmet. Es gibt keinen einzigen das Ausland betreffenden Bericht.

Es gibt kein Cafe (hier coffee shop genannt). In den neun Jahren, in denen ich in Deming wohne, gab es lediglich zwei davon – zeitversetzt. Die Besitzerin des ersten machte aus gesundheitlichen Gründen ihren Laden dicht. Der andere - hinter dem Parkplatz von Wells Fargo - schloß erst kürzlich. Damit ähnelt Deming für jemanden wie mich, die in der Atmosphäre von Cafes Prüfungen, Vorträge und Seminare vorbereitete, eher einer Strafkolonie!

Es gibt keine Eisdiele. Dairy Queen mit seinen Softeiskreationen ist nun wirklich keine ernsthafte Konkurrenz! Und wer will sich schon mit einem Turtle Pecan Cluster Blizzard an einen knallroten Tisch setzen, der auf einem schwarz-weißen Fliesenboden befestigt ist, um sich unter grellem Neonlicht mindestens 700 Kalorien einzuverleiben, die eigentlich nur nach Zucker schmecken? (Und das ist die „kleine Portion!“ Wem es nach mehr gelüstet, nämlich nach 1460 Kalorien, bestellt sich „large,“ die große Portion!)

Es gibt keine einzige Bäckerei!
Kein frisches, knuspriges Brot oder noch warme Brötchen! Keine Schneckennudeln, keinen Mohnkuchen, keinen gedeckten Apfelkuchen! Oh Graus! Das allein ist ein Grund, ernsthaft ans Wegziehen zu denken!!!

Es gibt keinen Buchladen. Reader’s Cove verkauft lediglich gebrauchte Bücher, bestellt aber auf Wunsch neue. Und Bruce, der Besitzer, ist ein ganz Netter. Nächstes Jahr allerdings wird auch er seinen Laden dichtmachen!

Es gibt keine Volkshochschule (Community Education). Vor zwei Jahren schloß die University in Las Cruces ihre Zweigstelle in Deming - u. a. aus Mangel an Anmeldungen! Die wenigen, die an Trauminterpretation, Spanisch, Töpfern, Weben, Entspannungstechniken, Memoir-Schreiben usw. interessiert sind, müssen nun eine Stunde über die Autobahn nach Las Cruces.

Es gibt keinen Markt mit frischem Obst und Gemüse! Zwar verkauften zwei Bauern der Umgebung ihre Waren jeden Samstag auf dem – Flohmarkt. Das ist aber nun schon Jahre her. (Ich weiß nicht, warum sie aufgehört haben.) Nun ist man auf die beiden Lebensmittelgeschäfte angewiesen: Pepper’s, ein lokaler Famlienbetrieb, und Walmart. Die meisten Sachen dort sind importiert, glasiert, und mit Chemikalien bespritzt.

Es gibt keinen richtigen Park. Das, was hier als „Park“ bezeichnet wird, ist meist nichts weiter als eine Grünanlage oder ein Kinderspielplatz. Es gibt nur einen einzigen Grünflecken, der als „Park“ durchginge: Der Pit Park - mit Rundweg und Bänken. Direkt an der Autobahn gelegen, damit das tief-Durchatmen auch so richtig gesund ist!

Somit entfällt das Spazierengehen, eine hier eher unübliche Art des Zeitvertreibs. Man kann sich natürlich seine Joggingschuhe anlegen und durch diverse „neighborhoods“traben. Oder mit dem Auto an den Stadtrand fahren und eine der vielen schnurgeraden, menschenleeren, unbefestigten Straßen entlanglaufen und die ewigen Mesquite-Büsche bewundern.

Das Schwimmbad ist klitzeklein und hat nur während den Sommerferien geöffnet. Nur dann nämlich stehen Jugendliche als Lebensretter zur Verfügung. Sobald die Schule wieder beginnt, schließt das Bad. Die Stadt hat kein Geld für Gehälter und für Wartung.

Allerdings gibt es

* Über vierzig Kirchengemeinden, deren „Geistliche“ meist kaum eine theologische Ausbildung haben
* Mindestens zehn Fastfoodrestaurants

Der Fairnis halber:
Seit 2008 gibt es endlich öffentliche Verkehrsmittel und besser als in Grünstadt! Die Kleinbusse des Corre Camino halten mehrmals am Tage an allen wichtigen Lokalitäten, fahren sogar nach Columbus (dem Dorf direkt an der mexikanischen Grenze) und nach Silver City (eine Stunde nördlich von hier), fahren an den Wochenenden bis spät in die Nacht, so daß die, die dem Alkohol zugetan sind, nicht aufs Auto angewiesen sind. Darüber hinaus kann man sogar vorher telefonisch vereinbaren, gegen eine Mehrgebühr direkt vor seinem eigenen Haus abgeholt zu werden!

Das aber macht den Kohl nun wirklich nicht fett!

Auch wir haben angefangen, Umzugspläne zu schmieden!