Montag, 8. September 2014

Demings andere Hälfte

Seit letzter Woche sind die Arbeiten an unserem Grundstück endlich, endlich (nach fast vier Jahren) abgeschlossen. Für das letzte Projekt - den Boden von ALLEM Unkraut befreien und mit Kies belegen - mußten wir Hilfe anheuern. Mein Mann und ich wären entweder beim Schieben der Schubkarren in der brütenden Hitze zusammengebrochen oder wir hätten noch einmal ein Jahr an Arbeit anhängen müssen.
Keine Aussichten, die uns begeisterten!

Also erstellte ich einen ansprechenden "help wanted"- Flyer, den mein Mann dann an der Anschlagtafel beim Wohlfartsamt in der Pear Street befestigte.
Schon eine Stunde später kamen die ersten Anrufe von arbeitswilligen Mitmenschen. "First come, first serve," war unsere Devise, und wir hätten auch weibliche Schwerarbeiter willkommen geheißen.

Wir benötigten vier und hatten auch bald vier Namen auf unserer Liste.
Allerdings tauchten nur zwei am nächsten Morgen auf, Anthony und Joe. Da die zwei Frauen ausblieben, bot Joe uns an, seinen Cousin anzurufen. Gesagt, getan, und Richard gesellte sich nach etwa 30 Minuten zu uns. Außerdem sprang Daniel, ein Freund von uns, ein.

Alle vier sind Hispanics - trotz der englischen Namen, haben also ethnische Wurzeln in einem Land südlich von hier. Da der Rest der Nation - also diejenigen, die zur europiden Rasse gehören (hier "Caucasian" genannt), große Schwierigkeiten mit der Aussprache aller nicht-englischer Namen hat, "verenglischen" viele Hispanics ihre Namen. Joe is eigentlich Jose, Richard Ricardo, Anthony Antonio.

Alle vier schufteten wie verrückt, legten kaum eine Pause ein, und mußten zum Mittagessen fast gezwungen werden. Da saßen also alle um unseren Tisch, und gemeinsam verdrückten wir drei Pizzas.

Zu diesem Zeitpunkt war ihnen klar geworden, dass wir nette Leute sind. (Unser Freund Daniel wußte das natürlich schon länger!) Jedenfalls tauten sie auf und erzählten, noch etwas schüchtern, aus ihrem Leben. Die Erzählungen vertieften sich am nächsten und übernächsten Tag.
Mein Mann und ich staunten.
  • Es stellte sich heraus, dass unser Freund Daniel mit Ricardo verwandt ist, die beiden sich allerdings an diesem Morgen erst nach vielen Jahren wieder gesehen hatten. Grund: Ricardo hatte ein paar Jährchen im Knast verbracht wegen Drogendelikte. 
  • Jose lebt mit drei Kindern und einer hochschwangeren Frau bei seinen Schwiegereltern, da sie sich ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung nicht leisten können.
  • Wir erfuhren auch, dass weder Ricardo, noch Jose oder Antonio über ein Auto verfügen - zumindest nicht über ein funktionierendes - und somit von Familienmitgliedern abhängig sind, wann immer einer von ihnen irgendwo hin muß.
Zwei Wochen später brauchten wir erneut Hilfe fürs Grundstück. Diesmal aber war Ricardo nicht mehr verfügbar, da er in der Zwischenzeit einen Arbeitsplatz gefunden hatte, und Antonio nahm den Hörer nicht auf.
Da Jose nun über eine große Familie verfügt mit dutzenden Cousins und zukünftigen Schwägern, war bald für Ersatz gesorgt. Diesmal tauchte er mit seinem Onkel Raul auf und mit Jess, dem "boyfriend" einer seiner Schwestern.

Zur Mittagszeit erfuhren wir folgendes:
  • Jess, 34 Jahre alt, ist geschieden, hat drei Kinder, die bei seiner Frau in Colorado leben. Er aber sorgt für seine achtjährige Tochter, die wegen einer unheilbaren Krankheit am sterben ist.
  • Auch Jose war mal im Knast.
    Seine Frau hatte kurz vor ihrer Schwangerschaft einen Herzinfarkt, ihre Ärtze rieten zu einer Abtreibung, sie aber entschied sich, das Kind auszutragen, auch wenn sie nur eine 50%ige Überlebenschance hat
"Wovon lebt ihr eigentlich?" fragte ich. "Ich erhalte eine Berufsunfähigkeitsrente von $635. Und von Jobs wie denen bei euch." 

Die andern Hälfte Demings! So also sieht "Armut in Deming" aus.

Es ist eine Sache, von Hunger, undichten Dächern, die wegen Geldmangel nicht reparariert werden können, und von jungen Leuten, die beim Drogenhandel erwischt werden, in der Zeitung zu lesen.
Eine andere Sache ist es, eben diese Mitmenschen am eigenen Tisch sitzen zu haben und ihnen zuzuhören.

Dem 2010 Census gemäß leben 32.9% - also mehr als jeder Dritte! - der Bevölkerung in Deming unterhalb der offiziellen Armutsgrenze.

Diese betrug in 2013 $15 510 für einen Zwei-Personen-Haushalt, $19 530  für einen Drei-Personen- und $23 550 für einen Vier-Personen-Haushalt. Bei fünf Leuten - wie in Joses Fall - sind es $27 570.
(Die Zahlen sind etwas höher für Alaska und Hawai wegen der höheren Lebenshaltungskosten in diesen Bundesstaaten.) 

Jose erhält also jährlich noch nicht einmal $10 000! Das ist bittere Armut.

Es gibt natürlich viele Hilfsaktionen in Deming, kostenlose Mahlzeiten in den Schulen, kostenlose Krankenversicherung für mittellose Kinder, und öffentliche Beihilfen z.B. zu den Nebenkosten. Vor allem die Heizungskosten im Winter können erheblich sein, da die Häuser oft undichte Fenster und dünne Wände haben. Viele frieren, manchen wird die Elektrizität wegen ausstehenden Rechnungen abgeschaltet.

Die Armut ist bedrückend und allgegenwärtig. Es ist deprimierend, in die Innenstadt zu gehen. Die meisten kleinen Geschäfte  haben dicht gemacht, die Fenster sind verbrettert. Es gibt keine Arbeitsstellen für höher Qualifizierte.
Es gibt auch keinerlei intellektuelle oder kulturelle Stimulation. Nichts zum Unternehmen, keine Parks, noch nicht einmal ein Ort zum Spazierengehen.

Die Selbstmordrate vor allem unter den jungen Menschen ist hoch. Eine Professorin an der kleinen Uni in Silver City gab während eines Vortrages an, dass ungefähr 17% der jüngeren Menschen (der bis 25-Jährigen?) versuchen, sich das Leben zu nehmen. (New Mexico, das zu den ärmsten Bundesstaaten gehört, hat die zweithöchste Selbstmordrate in den USA.)

Am letzten Donnerstag dann hieß es, Abschied nehmen. Wir haben die Telefonnummern unserer hispanischen Helfer an alle unsere Freunde und Bekannte weitergegeben. Mittlerweile haben sich neue Aushilfsjobs für sie ergeben.

Am selben Tag wollten wir mein Auto zum einzigen Windschutzscheibenreparaturbetrieb bringen, den es hier gibt. Der Besitzer dieses Betriebes saß in einem Kleinlaster in seiner Werkstatt- sternhagelvoll! Er bat uns, an einem anderen Tag wieder zu kommen.

Auf dem Heimweg dann sahen wir zwei herrenlose, spindeldürre, aber wunderschöne Hunde.

Beides - der Alkoholkonsum und das Aussetzen von Hunden - sind leider andere weitverbreitete Symptome von Armut.

Es wird wirklich Zeit für uns, nach zwölf langen Jahren von hier weg zu ziehen!
Es ist einfach zu deprimierend.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich drücke euch die Daumen für einen schönen Neuanfang.

Dani

Monika hat gesagt…

Vielen Dank, Dani!